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FASSADEN



Du sitzt im Tram oder im Bus oder meinetwegen im Zug und schaust dir die Leute an. Zum Beispiel die Frau dort drüben, die mit den schwarzen Haaren, so um die 35 vielleicht, starrt aus dem Fenster. Gedankenverloren, nein eher traurig. Du meinst, wenn du sie nun weiterhin so beobachtest, sogar eine gewisse Verzweiflung in ihrem Blick zu erkennen.
Beziehungskrise? Drohende Entlassung?
Du entscheidest dich für das Zweite. Siehst sie vor dir, wie sie mit ihrem Chef diskutiert, besser gesagt, er spricht, sie hört zu, ihr Bemühen zu lächeln misslingt, je länger er auf sie einredet. „Es tut uns leid, sie wissen, sparen um konkurrenzfähig zu bleiben...“, er erzählt ihr von seinen Problemen, den Problemen seiner Firma, wo liegt der Unterschied. Er, mit Brille, den Aktenkoffer neben sich auf den Tisch gestellt, hat sich keine Zeit genommen, seine Jacke auszuziehen, „Zeit ist Geld“, nervös, solche Gespräche gehören nicht zu seinem Beruf, oder war da vielleicht während seiner Ausbildung jemals die Rede davon gewesen? Damals, als er noch an seine Firma geglaubt hatte, an die Wirtschaft ,...an sich... – nein, das hat hier nichts zu suchen, keine Gefühle. „fressen oder gefressen werden“.
Er spricht auf sie ein, ihr Lächeln wird zur Fratze, macht nichts, keiner sieht es, keiner schaut es an, sie an, obwohl du, der du ihr gegenüber sitzest, genau dies tust, nichts anderes. Er steht auf, „ danke für das Gespräch, ich hoffe sie sehen, dass uns nichts anderes übrigbleibt, es ist nun mal so, die Zeit, die Wirtschaft – du siehst die Ungeheuer immer grösser werden – sie sind ja zum Glück nicht allein, ein Massenphänomen....“
Ja, wo liegt denn das Problem? Es ist nun einfach so, heute, morgen,. übermorgen. Vielleicht trifft es auch meine Firma, mich, aber ich werde bleiben bis zum Letzten, erst dann werde ich mich entlassen, da ich dies als einziger kann, ein Triumph des Chefseins. Entlassen? Von was? Von der Firma, von mir?
Keine Zeit, es klopft an der Türe, nächster Termin.
Du, immer noch im Zug sitzend, oder war es das Tram, der Bus, siehst ihn vor dir , den Chef, wie er dasitzt, seine Firma sein Leben, 160%. Siehst ihn im Spital liegen, innerlich zerfressen, aufgezehrt von der Arbeit, nur noch eine Hülle. Seine Frau daneben, eine Fremde?, weint, die Kinder nervös – Fassaden. In der Zeitung, die Todesanzeige, gross, sein Nachfolger hat nicht gespart...“nach langem Dienste für unsere Firma (seine ist es nicht mehr) von uns geschieden, in Trauer....“. Den jetzigen Chef hatte er nie gemocht, auch nie richtig gekannt. Warum auch? Warum hätte er denn sterben sollen, aufhören Chef zu sein?
Die Frau mit den kurzgeschnittenen Haaren, starrt aus dem Fenster, du starrst sie an, ihr Leben, ihre Geschichte, ihre Nacktheit hinter dem bewegungslosen Gesicht. Der Zug hält. Andere Leute; andere Geschichten hinter anderen bewegungslosen Gesichtern, oder müden Lächeln. Sie sitzt immer noch da, scheint den Mann der eben eingestiegen ist und sich neben sie gesetzt hat, nicht zu bemerken.
Wie soll sie es ihren Freunden sagen? Ihren Eltern, ihrem Mann, falls sie verheiratet ist, überlegst du dir an ihrer Stelle. Arbeitslos. Woher das Geld nehmen für die Miete, fürs Essen? Wenn der Zug hält, sie aussteigt, nach Hause geht. Gedankenverloren den Schlüssel aus der Tasche kramend, in die Küche, die Katze, automatisch greift sie in den Kühlschrank, nimmt die Büchse, der Preis, 90 Rappen, denkt an die bevorstehende Katzenseucheimpfung, schaut ihre Katze an, seufzt. Dann in ihr Schlafzimmer, legt sich aufs Bett. Die Vase am Fenster mit den verwelkenden Tulpen, kein Wasser mehr darin. Sie hatte sie am Morgen umgestossen, die Zahnbürste in der einen, die Agenda in der anderen Hand. Keine Zeit Wasser nachzugiessen, oder die Tulpen wegzustellen. Um zehn Uhr der Termin beim Chef. „Die Agenda wird leer sein in nächster Zeit,“ denkt sie, erleichtert? „Morgen werde ich...“
„Bitte alle Billette vorweisen, merci, dankschön“ Aus deinen Betrachtungen gerissen, holst du das Billett aus der Tasche.
Die Frau mit den kurzgeschnittenen Haaren lächelt zerstreut, ihr Blick streift deinen. Sie kommt dir so vertraut vor, ihr Leben, ihr Chef, arbeitslos. Du nickst ihr zu, Verständnis für ihre schicksalhafte Situation, tröstest sie in Gedanken in ihrer abgrundtiefen Verzweiflung, suchst nach den richtigen Worten...
Da plötzlich greift sie sich an den Hinterkopf, schon versuchst du diese Bewegung, diesen merkwürdigen Glanz in ihren Augen zu interpretieren. Ihre Finger scheinen dort am Hinterkopf etwas zu suchen, jetzt scheinen sie gefunden zu haben, ein Lächeln huscht über ihr Gesicht. Sie öffnet den Reissverschluss, der wie du nun siehst, vom Halsansatz bis zum Scheitel führt. Stülpt ihren Hinterkopf über das Gesicht, zerrt ein bisschen, etwas scheint zu klemmen. Noch ein Ruck, auch das Gesicht beginnt sich zu bewegen, wie wenn ein Strumpf von einem Fuss gezogen wird, der Hinterkopf, das Gesicht, eine Maske. Die Haut scheint sich zu lösen, der Mund mit dem traurigen, ja verzweifelten Lächeln, der Blick in ihren dunklen Augen, von der Tragödie ihrer Situation sprechend, sie scheinen an Konturen zu verlieren, wie eine Schlange sich häutend, geht es dir durch den Kopf. Das Gesicht, es zerfällt, zerbröckelt, wie die Fassade des Nachbarhauses, kein Geld zum renovieren, dann, dann ist es ab.

(darunter- vielleicht das Glück!)

[alw, 1998]