[Anne-Lea Werlen, 2005]

Textbeitrag zum
Ausstellungskatalog
"Jon Etter"

www.jonetter.ch

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Der Blick auf den Ort - Die Realität zeigt Einbildungskraft


Jon Etters Bilder zeigen Orte.
Meist urbane, oft verlassene, aber noch nicht verwahrloste.
Orte, deren ursprüngliche Nutzung kürzlich aufgegeben wurde, deren neue Funktion noch nicht geklärt ist, die jederzeit wieder belebt werden könnten.
Orte, an denen die vorhandenen Elemente irgendwie nicht zusammen zu passen scheinen, an denen widersprüchliche Hinweise absurde Situationen schaffen.

Unschlüssige Orte.
Durchlässige Orte.
Irritierende Orte.

Mögen Jon Etters Bilder auf den ersten Blick dokumentarisch wirken, so interessiert ihn nicht die Dokumentation des Vorhandenen. Es geht ihm nicht darum, die Geschichte eines bestimmten Ortes zu erzählen, sondern darum, mit einem Ort eine Geschichte zu erzählen. Viele der im Katalog gezeigten Bilder sind in Berlin entstanden, sie hätten auch in einer anderen Stadt entstehen können. Berlin als spezifische Stadt ist aus dem Blickfeld gerückt, Berlin ist zum Träger möglicher Geschichten geworden. Das Vorgefundene wird in Szene gesetzt zur Szene. Oder: der Ort wird unter dem Aspekt der Möglichkeiten minimaler Raumdefinitionen betrachtet. Hier geht es um die Frage, welche Elemente einen Ort visuell als einen Ort erkennen lassen und als begrenztes Gebiet aus einem Umfeld herauszulösen vermögen. Jon Etters Bilder thematisieren den Ort. Einerseits als begrenzten definierten Raum, in Ein Ort ist ein Gebiet innerhalb einer Umgebung, anderseits als Träger möglicher Geschichten, in It was like the whole city had changed overnight.


Ein Ort ist ein Gebiet innerhalb einer Umgebung

Zwei Tore machen aus einem Feld ein Spielfeld. Ein Gitter umschliesst einen Platz, der Platz wird zum Ballspielplatz. Visiere bezeichnen den Raum, den ein künftiges Haus einnehmen wird. Über die Zuweisung einer Funktion wird ein Gebiet begrenzt und zu einem Ort. Eine minimale Raumdefinition.


It was like the whole city had changed overnight

Die Bilder der zweiten Arbeit erinnern an Bilder aus Filmen; Schauplätze einer Handlung, Augenblicke zwischen einem möglichen Vorher und einem möglichen Nachher. Kleine Unstimmigkeiten und Widersprüchlichkeiten, Irritationen, schaffen eine Bewegung über den abgebildeten Moment hinaus, lassen eine Geschichte vermuten. Jon Etter greift nachträglich mittels Retuschen und kleiner Montagen in viele seiner Bilder ein. Die vorgenommenen Modifikationen sind nicht direkt erkennbar; sie verändern das Vorgefundene nicht im Sinne einer künstlichen Erschaffung einer neuen Situation. Das Vorgefundene wird beibehalten und durch das Weglassen bestimmter Elemente betont. Die abgebildete Situation wird dadurch verdichtet und beginnt gleichzeitig ins Künstliche zu kippen. Der Anklang ans Dokumentarische in Jon Etters Bildsprache verstärkt dieses Kippmoment. Mit dem Vorhandenen wird ein Bruch erzeugt, der über das Vorhandene hinaus weist; die Bilder werden in ihrer Abgeschlossenheit durchbrochen. Es wird auf etwas hingewiesen, das sich durch das Bild allein nicht erklärt.

Irritierende Orte.
Irritierte Orte.

Ein Pult. Dahinter ein Fenster auf eine Werkhalle gerichtet. Auf dem Pult ein Notizbuch, ein Telefon. Kürzlich weggewischter Staub; In einem anderen Raum ein ausgelaufener Kühlschrank. Darauf eine Kaffeemaschine, noch in Betrieb; Eine Baustelle, geflutet; Ein Platz, aufgeräumt, ordentliche Bepflanzung, dahinter zwei Blöcke, Satellitenschüsseln; Ein Industriegelände, intaktes Gebäude, wuchernde Pflanzen davor; Ein anderes Gebäude, gelbe Fassade, geschlossene Fensterläden, geschlossene Garagentore, ein abgestelltes rotes Auto, beschriftet mit "Möbel Triassi, italienischer Stil". Davor eine Strassenlampe. Dahinter ein hoch aufgetürmter Holzhaufen.

Verlassene Orte, noch nicht verwahrlost, vielleicht noch belebt, wieder belebbar. - "Räume, aus denen das Leben gerade entwichen ist. Räume, die dadurch lebendig bleiben." *

Ein Chinatorbogen in einem Industriegelände, punktuell beleuchtet, ein Lastwagen - "China Trade Center"; Auf einem anderen Bild "Küchenarbeitsplatten", "Fensterbänke", "Treppenbeläge" - Schriftzüge an einer Mauer; Ein weisser Würfel auf einer leeren Fläche, beschriftet mit der Zahl Fünf, im Innern beleuchtet. Dahinter auf einer anderen Ebene ein historisches Gebäude mit Türmen verziert; "Peking City" - ein Schild an einem schlichten, rechteckigen Haus. Davor Palmen, aus Plastik, rote Lampions aus China.

Die künstliche Beleuchtung löst die abgebildete Situation aus ihrem Umfeld. Sie verstärkt das Bühnenhafte der Nachtaufnahmen. Manche Bilder erinnern an die Ästhetik künstlich generierter Game-Environnements. Menschen sind nicht anwesend, könnten aber jederzeit auftauchen. Der Anklang dieser Bilder an Filmszenen erzeugt die für Jon Etters Arbeit typischen bedeutsamen Andeutungen.

Der Ort wird zum Schauplatz einer Geschichte, die eben stattgefunden hat oder gleich stattfinden wird.
Der Ort wird zur Bühne.



* Georg Diez: Haarscharf am Theater vorbei. Ein Artikel über Anna Viebrock. Das Magazin (Tages-Anzeiger) 21. Februar 2004